Unter Klimagesichtspunkten ist die Sache klar: Ein Neubau schlägt mit 1.000 Kilogramm CO2 pro Quadratmeter zu Buche, die Sanierung mit 100 bis 200, so eine grobe Schätzung des Verbands für Bauen im Bestand. Doch Bauherren müssen auch baurechtliche, konstruktive und wirtschaftliche Aspekte abwägen. Zwei Beispiele aus Regensburg zeigen, dass selbst für ähnliche Gebäude das Ergebnis unterschiedlich ausfallen kann.
Wohnblöcke aus den 50er und 60er-Jahren gehören zu den Gebäuden, bei denen manch ein Eigentümer überlegt, ob sich eine Sanierung lohnt oder nicht eher der Abriss sinnvoller ist. Auch für die Stadtbau Regensburg, eine 100-prozentige Tochter der Stadt, stellt sich diese Frage immer wieder. Das Unternehmen bewirtschaftet derzeit über 7.200 Wohneinheiten. Deutlich mehr als die Hälfte davon wurde in den Jahren 1948 bis 1971 errichtet.
Auch ein 14-stöckiger, freistehender Plattenwohnturm mit 58 Wohneinheiten im Südosten der Stadt ist in dieser Zeit entstanden, genau gesagt 1967. Er wurde mittlerweile zu einem Vorzeigebeispiel für eine nachhaltige Generalsanierung. Vor allem der veraltete Brandschutz zwang den Bauherrn zum Handeln. Gefordert war unter anderem ein zweites Treppenhaus. Zugleich waren energetische Verbesserungen notwendig. Trotz des absehbar hohen Sanierungsaufwands entschied sich die Stadtbau gegen einen Abbruch, insbesondere aus baurechtlichen Überlegungen.
Das Solitärgebäude befindet sich auf einem Grundstück mit niedriger Bebauung im Umfeld. Ob im Falle eines Abrisses das Baurecht für einen gleichartigen Ersatzneubau gegeben gewesen wäre, war unklar. „Dann hätten wir ein Bebauungsplanverfahren anstrengen müssen“, beschreibt Stadtbau-Geschäftsführer Götz Kessler das Problem. Das Unternehmen beschloss stattdessen, eine umfangreiche Sanierung durchzuführen und diese zugleich zu nutzen, um auf der stadteigenen angrenzenden Freifläche in einem direkten Anbau weitere Wohneinheiten zu schaffen. Dafür war letztlich zwar auch ein Bebauungsplanverfahren erforderlich, aber mit einer günstigeren Ausgangslage. „Dabei hatten wir das Bestandsgebäude als Bezugsgröße. Und durch die Platzierung des Anbaus waren nachbarschaftliche Belange nicht betroffen“, erklärt Keßler.
Vorzeigeprojekt erhält rückbaubare Fassade
In einem 2020 organisierten Architekturwettbewerb überzeugte ein Konzept, welches das Architekturbüro Studiomolter zusammen mit dem Ingenieurbüro Nemeth & Stopper und einer Forschungsgruppe der Hochschule Rosenheim entwickelt hatte. Im Mittelpunkt der Sanierung stand die nachhaltige Erneuerung der Fassade. Sie war mit teils maroden Platten aus faserverstärktem Beton verkleidet, die nicht mehr in den Wertstoffkreislauf zurückgeführt werden konnten, sondern aufwändig und teuer entsorgt werden mussten.
Aufgabe der Planenden war, eine komplett rückbaubare Fassade zu entwerfen. „Wir haben für drei Materialien auf einer Trägerplatte – Aluminium, Stahl und Keramik – in jeweils zwei unterschiedlichen Stärken eine Lebenszyklusanalyse durchgeführt. Darin wurden das Treibhausgaspotenzial und der nicht-erneuerbare Primärenergieaufwand der verschiedenen Bauweisen verglichen. Ergänzend haben wir die Lebenszykluskosten analysiert“, erklärt Architekt Philipp Lionel Molter.
Dabei galt es auch, die baulichen Gegebenheiten zu berücksichtigen. „Es ließ sich nicht ermitteln, wieviel Gewicht die Bestandswand aus Holzwolle-Schalbetonsteinen tragen kann. Das war ein entscheidendes Argument für die Verwendung von dünnen und damit leichten Aluminiumblechen, die zudem nur eine leichte Unterkonstruktion benötigten.“ Erst im weiteren Verlauf der Planung stand fest, dass rezyklierbares Aluminium zur Verfügung stehen würde. Das hat die Ökobilanz erheblich verbessert.
Auf der Bestandsfassade ließ der Architekt eine Mineralwolldämmung anbringen, darauf die Unterkonstruktion und dann die Aluminium-Wellblechelemente. An der südlichen und westlichen Seite des Gebäudes sind Photovoltaikmodule mit einer Gesamtfläche von 730 Quadratmetern und einer Leistung von 98 Kilowatt farblich passend und damit kaum sichtbar in die Fassade integriert. Sie umrahmen die Fenster und bilden die Balkonbrüstungen. Zusammen mit weiteren 17 Kilowatt auf dem Dach versorgen die Module die Bewohner mit Mieterstrom – ein Beitrag zum Klimaschutz und zu geringeren Betriebskosten. „Die neue Fassade gleicht einem Rohstofflager. Sie ist komplett in Ihre Einzelteile zerlegbar und damit weiter verwendbar“, lautet das Fazit des Architekten.
Doch nicht nur der Schichtenaufbau der Fassade ist neu. Horizontale Betonriegel stoppen die Ausbreitung von Feuer im Brandfall und gliedern die Front optisch. Fenster- und Türöffnungen wurden vergrößert, um den Lichteinfall in den Innenräumen zu verbessern. Möglich war das, weil die Heizkörper wegfielen. Im Zuge der Sanierung wurde der Effizienzhausstandard 55 erzielt und die Wärmeversorgung auf Fußbodenheizung umgestellt. Dank der neu gestalteten Fassade bilden der Bestandsbau und der neue Betonanbau an der Nordseite eine Einheit. Um das neue zweite Treppenhaus und einen Fahrstuhl sind nun drei weitere Wohneinheiten pro Etage gruppiert. Insgesamt umfasst das Gebäude damit 98 Wohnungen. Die Bruttobaukosten beziffert Architekt Molter mit knapp 3.300 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche (KG 300 + 400).
Für die Stadtbau fällt die wirtschaftliche Bilanz durchwachsen aus. „Ein Wohnhochhaus mit einer etwa quadratischen Grundfläche hat zwei ungünstige Wirtschaftsparameter: Die Außenfläche ist im Verhältnis zur Wohnfläche sehr groß. Und der innen liegende Erschließungskern nimmt einen großen Teil der Geschossfläche ein. Das Ausbauverhältnis -– also der Anteil der vermietbaren, Geld bringenden Fläche – liegt bei solchen Gebäuden bei 60 bis 65 Prozent“, erklärt Geschäftsführer Keßler. „Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sind sowohl die Sanierung als auch der Ersatzneubau von solchen Häusern problematisch. In unserem Fall wäre es wirtschaftlich sicherlich nicht schlechter gewesen, anstelle der Sanierung einen Abriss vorzunehmen und einen Riegel mit einer vergleichbaren Geschossfläche, einem besseren Ausbauverhältnis und niedrigeren Brandschutzanforderungen neu zu bauen.“
Viele Hemmnisse behindern Sanierungen
Bei der Entwicklung eines Quartiers wenige Kilometer weiter östlich war das Ergebnis des Abwägungsprozesses ein anderes. Dort ließ die Stadtbau zwei Gebäude abbrechen, vor allem aus baukonstruktiven Gründen. „Ausgangspunkt war die Erneuerung der Wärmeerzeuger. Die Gebäude waren mit Einzelöfen ausgestattet, die keine Zulassung mehr hatten“, berichtet Keßler. „Wir haben eine große Gaszentrale und ein Blockheizkraftwerk für das Quartier errichtet und ein Nahwärmenetz verlegt. Nun werden die Gebäude nach und nach angeschlossen. Das erfordert einen höheren Dämmstandard.“
Bei beiden Gebäuden wäre der Dämmstandard zwar erreichbar gewesen, es wären jedoch weitere Maßnahmen notwendig geworden. Es waren die in den 60er Jahren üblichen Materialien verbaut, darunter beispielsweise PAK-haltige Klebstoffe und Dichtungsbahnen. Diese hätten umfangreiche Sanierungen erfordert. Hinzu kam die Betondeckung der Geschossdecke, die den heutigen Brandschutzanforderungen nicht entsprach. Sie hätte ertüchtigt werden müssen. Das wiederum war aufgrund der niedrigen Deckenhöhen nicht möglich. Die Summe dieser Hindernisse war ausschlaggebend für die Abriss-Entscheidung. Nun lässt die Stadtbau Neubauten mit mehr Wohneinheiten errichten.
Aus Sicht des Stadtbau-Geschäftsführers ist die Bereitschaft, Gebäude im Bestand zu halten, heute auf jeden Fall viel ausgeprägter als noch vor fünf oder zehn Jahren. „Dieser Trend wird ganz maßgeblich durch die schnelle Weiterentwicklung und Differenzierung von Bauprodukten befördert. Heute habe ich als Bauherr ein breites Spektrum an Möglichkeiten, ein Gebäude so zu sanieren und zu qualifizieren, dass es gut bewohnbar ist“, meint er.
Die Zahl der Gebäudeabbrüche ist deutlich rückläufig, zumindest in den Jahren 2007 bis 2021. Die hat das Institut für Baubetriebswesen der Technischen Universität Dresden in der jüngst veröffentlichten Studie „Long-Lasting Real Estate“ unter die Lupe genommen. Danach hat sich beispielsweise die Zahl der Wohngebäudeabgänge um mehr als ein Drittel verringert (2007: 8.161, 2021: 5.249), die der Wohneinheiten gar um zwei Drittel (2007: 44.539, 2021: 14.817).
Dietmar Walberg, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft zeitgemäßes Bauen (ARGE) in Kiel, ordnet diese Zahlen ein: „Auch wenn in der öffentlichen Diskussion manchmal ein anderer Eindruck entsteht: Es wird generell wenig abgerissen, gerade bei Wohngebäuden. Dort sind es im Jahr etwa 0,03 Prozent der gesamten Wohnfläche, mit leicht rückläufiger Tendenz seit 2014.“ Die Studie stellt jedoch darüber hinaus einen signifikanten Anteil an Gebäuden fest, deren Abbruch beziehungsweise Nutzungsentzug als frühzeitig klassifiziert werden kann. So waren zwischen 2016 und 2021 circa 21 Prozent der Wohngebäude abgängig, die maximal 42 Jahre alt waren.
Die Gründe für diese frühzeitigen Abbrüche sind vielfältig. Ganz oben auf der Liste stehen mangelhafte Anpassungsfähigkeit und Flexibilität der Gebäude. „Weitere direkte
Knockout-Kriterien sind eine stark beschädigte Bausubstanz, eine nicht ausreichende Geschosshöhe, welche nach der Integration neuer Anlagen der Haustechnik im lichten Maß für eine Nutzung nicht ausreichend ist, einschränkende Nutzungsraster oder tragende, aufgehende Bauteile sowie die Nichtumsetzbarkeit brandschutztechnischer Auflagen im Bestand“, heißt es in der Studie
Gebrauchstauglichkeit als Kriterium nehmen
Die Ergebnisse der TU Dresden decken sich mit den Erfahrungen der Akteure in Regensburg. „Wir bauen sehr spezifische Gebäude. Das fällt uns auf die Füße“, beobachtet Architekt Molter. Wenn ein Haus nicht mehr für neue Nutzungsanforderungen passe, werde es oft abgerissen, obwohl die ökonomische und technische Lebensdauer noch lange nicht erreicht sei. Der Experte ist überzeugt: „Wir haben nicht zu wenige Gebäude, sondern die falschen Gebäude. Wir brauchen einen Transformationsprozess. Wenn der gelingt, müssen wir auch nicht 400.000 Wohnungen in Neubauten errichten.“
Die Anpassung an neue oder andere Nutzungen – das bedeuten bei Wohngebäuden beispielsweise barrierefreie Umbauten, Grundrissänderungen oder Teilungen von großen Wohnungen in kleinere Einheiten. Bei einigen Gebäuden sind solche Änderungen vergleichsweise einfach zu realisieren, bei weiteren jedoch mit viel Aufwand verbunden und bei wieder anderen unverhältnismäßig. Und dann gibt es noch Gebäude, die an der Stelle, wo sie sich befinden, einfach nicht mehr gebraucht werden, beispielsweise weil der Wohnraumbedarf insgesamt zurückgegangen ist.
Aus Sicht von Sarah Dungs, Vorstandsvorsitzende des Verbands für Bauen im Bestand, ist eine Sanierung zwar bei jedem Gebäude möglich, aber auch sie sagt: „Ein Abriss kann dort sinnvoll sein, wo die Immobilie nicht mehr zum Bedarf – also zu den Menschen – passt. Und dort, wo das Gebäude über Jahre so zerfallen ist, dass es nicht mehr zu ertüchtigen ist und man zu dem Ergebnis kommt: Ein Abriss ist deutlich wirtschaftlicher.“ Wichtig sei jedoch, dass Experten für Sanierung zu diesem Ergebnis kommen.
Fallstricke beim Wirtschaftlichkeitsvergleich beachten
Eine pauschale Aussage nach dem Motto „Ein Abriss mit Ersatzneubau ist günstiger als eine Sanierung“ oder umgekehrt ist dabei nicht möglich. Auch gibt es keine allgemeingültigen Raster, die das Abwägen erleichtern. Zu viele Faktoren gehören zu einer Betrachtung: Abriss-, Entsorgungs- und Neubaukosten versus Sanierungskosten mitsamt absehbaren Mietminderungen wegen Beeinträchtigungen oder Kosten für Ersatzwohnungen, Förderung und steuerliche Möglichkeiten, Betriebskosten und künftige Mieten. An einer Einzelfallbetrachtung führt also kein Weg vorbei.
Für beide Handlungsoptionen wird sie durch erhebliche Unwägbarkeiten erschwert. „Ein Abriss ist wie eine Wundertüte“, sagt Keßler und beschreibt ein Beispiel: „Sie lassen eine Schadstoffuntersuchung machen und beauftragen ein Unternehmen. Das findet dann in aller Regel weitere Belastungen, die den Aufwand und die Kosten erhöhen, zum Beispiel einen Putz mit Asbestfasern, der aufgrund der Staubentwicklung speziell abgetragen und entsorgt werden muss.“ Dann folgt der Nachtrag zum ursprünglichen Angebot.
Der Neubau selbst sei zunächst besser kalkulierbar und damit weniger fehleranfällig, lautet die Einschätzung von Johannes Kreißig, Geschäftsführender Vorstand der Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen (DGNB). Im Falle einer Sanierung kann das Gebäude unliebsame Überraschungen bereithalten. Die können Eigentümer nur durch eine Bestandsuntersuchung mindern – wieder ein Kostenpunkt. ARGE-Geschäftsführer Walberg betont: „Es reicht nicht, in die Baubeschreibung zu schauen. Nur auf Grundlage einer strukturierten Analyse der Bausubstanz, ihrer Tragfähigkeit und Traglastreserven können Bauherren beurteilen, mit welchem Aufwand eine Sanierung verbunden ist und ob sich möglicherweise die Ausnutzung des Gebäudes noch erhöhen lässt.“
Auch der Planungsprozess sei mit Unsicherheiten behaftet, so Sarah Dungs: „Architekten, Ingenieure, Planer und auch Handwerker haben sich in den vergangenen dreißig Jahren auf Neubauten konzentriert, in diesem Segment ganz viel Erfahrung gesammelt und effiziente Abläufe entwickelt. Im Bauen im Bestand sind die meisten hingegen weitgehend unerfahren. Und die für Neubauten passenden Abläufe lassen sich nicht eins zu eins auf Bestandsbauten übertragen. Eine Sanierung kann ich nicht vom Schreibtisch aus planen und umsetzen. Sie erfordert immer wieder individuelle Anpassungen auf der Baustelle.“