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Quartierskonzept mit Abwasserwärme und KI

Mit digitalen Methoden zu nachhaltiger Stadtentwicklung

„Siemensstadt Square stellt eine Blaupause für die nachhaltige Transformation ehemaliger Industriegebiete dar“, sagt Matthias Rebellius, Mitglied des Vorstands von Siemens. Dabei spricht er über ein Mega-Projekt, bei dem ein Ort entstehen soll, der alle Themen rund um Wohnen, Leben und Arbeiten der Zukunft abdeckt. Geschehen soll dies auf dem 76 Hektar großen und über 100 Jahre alten Industrieareal der bereits bestehenden historischen Siemensstadt in Berlin-Spandau.

Hier entsteht ein gemischt genutztes urbanes Quartier mit 420.000 m² gewerblichen Flächen, 89.000 m² für Forschung und Entwicklung und einem Wohnanteil mit 270.000 m² für bis zu 7.000 Menschen – davon 30 Prozent als sozialer Wohnungsbau. Auf rund 4.500 m² entstehen außerdem soziale Einrichtungen wie etwa Grundschulen und Jugendfreizeitstätten. Hinzu kommen öffentliche Plätze, Parks und Straßen auf insgesamt 100.000 m², die nach Fertigstellung an das Land Berlin übergeben werden sollen. Der Technologiekonzern Siemens setzt das Projekt gemeinsam mit Partnern um.

80 Prozent der Wärme kommen aus dem Abwasser

Siemensstadt Square gilt unter anderem deshalb als Zukunftsprojekt, weil dort Technologien Einzug halten, die Vorbildcharakter haben. Dazu zählt zum Beispiel das Energiekonzept. Die Wärme- und Kälteversorgung wird vor allem aus dem Abwasser gewonnen.

Gemeinsam mit den Berliner Wasserbetrieben und einem lokalen Energieversorger entwickelt das Unternehmen Siemens einen Abwasserwärmetauscher, welche der größte seiner Bauart in Europa sein soll. Es handelt sich um einen Doppelrohrwärmeüberträger mit einem Innen- und einem Außenrohr, der eine thermische Entnahmeleistung von acht bis zehn Megawatt bietet. Er versorgt die Gebäude zu 80 Prozent mit Wärme und Kälte – und zwar den Bestand ebenso wie alle Neubauten und gewerblich genutzten Gebäude.

Die restlichen 20 Prozent übernimmt eine Luftwärmepumpenkaskade, mit der sich eine Vorlauftemperatur von 55 Grad Celsius erreichen lässt, die für einige der bestehenden Gebäude benötigt wird. Ein Power-to-Heat-System sorgt für die Absicherung und um mögliche Lastspitzen abzufangen. Mit der Anlage sei es technisch sogar möglich, künftig auch am Regelenergiemarkt teilzunehmen, sagt Alyssa Weskamp, die in dem Projekt als Sustainability Officer tätig ist.

CO₂-Neutralität für das Jahr 2026 anvisiert

Für das gesamte Energiesystem soll Ökostrom genutzt werden, Photovoltaikanlagen sollen außerdem einen Teil der Energie bereitstellen. Wolfgang Urban, Head of Technology, Sustainability and Infrastructure im Projekt, erklärt, warum das Konzept ein Alleinstellungsmerkmal darstellt: „Es erlaubt uns zum einen, die historischen Gebäude sowie die Gebäude, die keine besonders gute energetische Qualität haben, zu dekarbonisieren. Zum anderen bieten wir allen, die sich in der Siemensstadt Square neu ansiedeln wollen, von Anfang an eine schlüsselfertige Lösung für die nachhaltige Energieversorgung.“ Während das Viertel aktuell noch rund 3.000 Tonnen CO2 emittiert, soll bereits ab 2026 die komplette Wärme- und Kälteversorgung klimaneutral umgesetzt werden.

Es wäre natürlich einfacher gewesen, sich an die Fernwärme anzuschließen, so Nachhaltigkeitsexpertin Weskamp. Doch die speist sich zur Hälfte aus Kohlekraftwerken. Auf die Dekarbonisierung kann der Technologiekonzern aber nicht warten, denn er hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 CO2-neutral zu sein. Also fasste er die Entscheidung, das im Quartier vorhandene Abwasserdruckrohr der Berliner Wasserbetriebe als Energiequelle zu nutzen und einen Wärmetauscher zu installieren.

Daten für Planung und Betrieb liegen auf einer Plattform

Neben dem Energiekonzept gibt es eine weitere wichtige Säule, auf der das Projekt steht: die Digitalisierung. Siemens kann dabei auf Technologien zurückgreifen, mit denen es die digitale Transformation bereits in anderen Bereichen voranbringt, zum Beispiel in Fertigungsprozessen. Als Grundlage dient eine Cloud-Plattform mit der Bezeichnung Building X. Sie fungiert als eine zentrale Datendrehscheibe. Will heißen: Dort laufen alle Daten zusammen, die für Planung und Betrieb notwendig sind.

An diese Drehscheibe docken verschiedene Anwendungen an, die sich die Daten zunutze machen, wie zum Beispiel der 360°-Viewer. „Der 360°-Viewer ist im Prinzip eine dreidimensionale Punktewolke unserer Bestandsgebäude“, erklärt Weskamp. Das Tool stellt einen Standort als virtuelle 3D-Umgebung dar und bietet eine Indoor-Navigation, die Einblicke in die Topologie und Installation der haustechnischen Anlagen erlaubt. Damit lassen sich in Zukunft beispielsweise auch automatisch Grundrisse für Feuerwehrlaufkarten erstellen.

Wie andere digitale Technologien im Projekt nutzt auch der 360° Viewer künstliche Intelligenz (KI). Mithilfe von KI werden beispielsweise bei den fotorealistischen Modellen automatisch Personen ausgeblendet. Was mit dem 360°-Viewer entsteht, ist ein digitaler Zwilling als eine virtuelle Abbildung der Realität, mit der sich zum Beispiel bestimmte Abläufe simulieren lassen. Konkret wurden in dem Projekt auf diese Weise bereits über 100 Jahre alte Industriegebäude, die eine Fläche von rund 250.000 m²
einnehmen, in einen quasi begehbaren Zwilling integriert. Für Neubauprojekte hingegen ermöglicht ein durchgängiges BIM-Konzept (Building Information Modeling) von Anfang an digitale Zwillinge, die noch mehr Informationen enthalten.

Mehrere digitale Zwillinge kommen zum Einsatz

Neben dem digitalen Zwilling, der auf der Datendrehscheibe Building X aufsetzt, gründet das Digitalisierungskonzept der Siemensstadt Square auf drei weiteren solcher digitalen Modelle. Neben dem Gebäude-Zwilling gehört dazu der sogenannte Energy Twin. Mit diesem war es möglich, schon früh in der Planung das gesamte Energiesystem zu simulieren. So konnten vorab verschiedene Alternativen erprobt werden, bis man sich für die jetzige Lösung entschied.

Zwilling Nummer drei ist der Campus Twin. Er fungiert als digitaler Echtzeit-Masterplan und führt alle relevanten Daten – sowohl Bestands- als auch Planungsinformationen – zusammen. Er liefert quasi einen Überblick über das gesamte Projekt. „Üblicherweise ist ja jedes Einzelprojekt auf sich und den eigenen Planungsumfang fokussiert“, erklärt Weskamp. „Mit dem Campus Twin kann man sich dagegen schnell einen Eindruck verschaffen, was im Gesamtprojekt los ist.“ Mit ihm lässt sich auch visualisieren, wie das neue Quartier aussehen wird.

Generell soll durch die digitalen Zwillinge und die damit einhergehende intelligente Verknüpfung von Daten ein vollständiges virtuelles Abbild des Quartiers entstehen. Datensilos sollen aufgebrochen werden. Das Ziel ist, Fehler im digitalen Abbild des Quartiers zu erkennen, um sie in der realen Welt zu vermeiden.

Dabei sollen die digitalen Technologien aber nicht nur für Planung und Bau der Gebäude sowie Anlagen genutzt werden, sondern auch deren Betrieb unterstützen. So stellt Siemens zum Beispiel ein Programm bereit, um die Heizungs-, Lüftungs- und Klimaanlagen in den Gebäuden zentral zu überwachen und zu steuern.

Der Energy Twin soll außerdem dabei helfen, die gesamte Energieeffizienz im Auge zu behalten. Dafür lässt sich ein weiteres Programm mit der Bezeichnung Energy Manager nutzen, mit dem der Energieverbrauch, die Kosten und die CO2-Emissionen eines Gebäudeportfolios überwacht, analysiert und optimiert werden. Auch dieses greift auf KI zurück. Damit können sich beispielsweise Energieverbräuche prognostizieren lassen. Geplant ist außerdem, eine Quartiers-App zu entwickeln, die dem jeweiligen Nutzer einen Überblick über seinen aktuellen individuellen Energieverbrauch gibt.

Datenqualität entscheidet

„Wünschenswert ist es, künftig mithilfe der Digitalisierung eine Gebäudeautomatisierung umzusetzen, in der Anlagen in der Lage sind, sich selbstständig zu regeln“, erklärt Weskamp. Doch das werde gerade in den Bestandsgebäuden zunächst noch nicht möglich sein. Die Analyse von Daten könne aber die Gebäudebetreiber bereits sehr stark unterstützen – gerade, wenn es darum gehe, die Energie-Performance zu optimieren. „Dieses Thema hat schließlich noch immer eine Top-Priorität.“ Digitale Technologien bieten laut Weskamp auch Entlastung für die Mitarbeitenden im Facility-Management. Schließlich herrsche auch in diesem Bereich Fachkräftemangel.

Damit die digitalen Systeme ihre Wirkung entfalten können, brauchen sie aber vor allem eines: Daten. Diese in der ausreichenden Menge und der notwendigen Qualität bereitzustellen, ist eine Herausforderung. Für das bestehende Quartier wird bereits ein so genanntes IoT-Netzwerk (Internet der Dinge) aufgebaut, das den Funkstandard Lorawan nutzt. Über diesen können Geräte mit relativ wenig Aufwand Daten austauschen. Alle Gebäude sollen mit Smart Metern ausgerüstet werden, um Informationen an die zentrale Cloud-Plattform zu liefern. Doch der Bestand muss teilweise erst mit solchen intelligenten Zählern nachgerüstet werden. „Es gibt viele tolle Anwendungen, die sich mit der Digitalisierung und insbesondere mit KI umsetzen lassen – etwa für das Lastmanagement oder um Anomalien im Anlagenbetrieb aufzudecken“, sagt Weskamp. „Aber das steht und fällt mit der Verfügbarkeit von Daten.“

Zentralisiertes Energiesystem spart Technik und Fläche

Der Gesamtzeitplan für die Siemensstadt Square: Mit der Grundsteinlegung im Juni hat die Bauphase für Modul 1 des Projekts begonnen. Im Herbst 2026 sollen die ersten zwei Gebäude fertigstellt sein – ein Atriumgebäude und ein Info-Pavillon, der die Nachbarschaft über den Projektfortschritt informiert. Darüber hinaus entsteht ein 60 Meter hohes Hochhaus, das unter anderem Büroräume für die Mobility-Sparte von Siemens beherbergen wird. Ein neu gestalteter Eingangsplatz soll Mitte 2027 fertig sein. Das gesamte Projekt soll 2035 abgeschlossen sein, so die aktuelle Planung.

Siemensstadt Square sei ein Vorbild für die nachhaltige Transformation von Bestandsarealen, glaubt Weskamp. Das zeige sich in diesem Projekt sehr deutlich. „Allein durch das zentralisierte Wärmesystem können wir sehr viel Technik und auch Fläche einsparen, weil sich die einzelnen Gebäude nicht selbst versorgen müssen.“ Ein weiteres Beispiel für mehr Effizienz sei das Regenwassermanagement. Im Quartiersverbund könne man dieses grundstücksübergreifend umsetzen. Gibt es auf einem Grundstück mehr Grünflächen, wird das gesammelte Regenwasser entsprechend verteilt. „Das ist etwa wichtig für Schwammstadtkonzepte“, sagt Weskamp.

Auch in Sachen Digitalisierung hat die Siemensstadt Square ihrer Meinung nach Vorbildcharakter. Die durchgehende Nutzung von BIM erleichtere bereits die Planung. Und eine zentrale Datenplattform sei die Grundlage dafür, Gebäude digital und in Echtzeit abzubilden. Dies wiederum ist laut der Expertin die Voraussetzung für viele Anwendungen – wie zum Beispiel die Analyse von Verbrauchsdaten und die darauf aufsetzende Heizungsoptimierung.

Die Digitalisierung ist auch die Basis für eine Sektorenkopplung. So gehört E-Mobilität zum Konzept der Siemensstadt Square. Bis zu 50 Prozent der Parkplätze sollen mit Ladestationen ausgestattet sein. „Wichtig ist, dass eine solche zentrale Plattform technologieoffen ist – also etwa auch Smart Meter von verschiedenen Herstellern angebunden werden können. Das ist ein zentrales Prinzip von Building X“, sagt Weskamp. Siemens-Vorstand Rebellius sieht das Projekt jedenfalls als richtungsweisend für andere Metropolen weltweit: „Es zeigt, dass durch die Verbindung der realen und digitalen Welt eine nachhaltige Stadtentwicklung auch in historisch gewachsenen Strukturen möglich ist.“

Der Technologiekonzern Siemens setzt das Projekt gemeinsam mit Partnern auf dem Industrieareal der bereits bestehenden Siemensstadt in Berlin-Spandau um.

Bild: Siemens

Der Technologiekonzern Siemens setzt das Projekt gemeinsam mit Partnern auf dem Industrieareal der bereits bestehenden Siemensstadt in Berlin-Spandau um.

Das Projekt in Zahlen

  • 76 Hektar Fläche insgesamt
  • 270.000 m² für neuen Wohnraum für bis zu 7.000 Menschen, davon 30 Prozent als sozialer Wohnungsbau
  • 190.000 m² für zwei Industrie-Hubs für innerstädtische Produktion
  • 420.000 m² für Büros
  • 89.000 m² für Forschungs- und Entwicklungsräumlichkeiten
  • rund 4.500 m² für soziale Einrichtungen wie Grundschulen und Jugendfreizeitstätten
  • 100.000 m² öffentliche Flächen (Plätze, Parks, Straßen)
  • über eine Million Quadratmeter Geschossfläche
  • Platz für rund 35.000 Menschen, die in der Siemensstadt Square leben und arbeiten
  • rund 4,5 Milliarden Euro Gesamtinvestitionsvolumen
  • Kreislaufwirtschaft

    Auch Kreislaufwirtschaft wird in der Siemensstadt Square eine wichtige Rolle spielen. Dazu sind laut Siemens-Sustainability Officer Alyssa Weskamp einige Pilotprojekte geplant. Unter anderem wird es um die Wiederverwendung von Rückbaumaterial gehen. So gibt es zum Beispiel eine Kooperation mit dem Ziegelhersteller Wienerberger. Das Unternehmen hat in dem Projekt den Rückbau von Ziegelfassaden erprobt. Wienerberger konnte daraufhin ein Geschäftsmodell entwickeln, um die wiedergewonnenen Ziegel neu zu vermarkten.

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