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Bücherscheune für Leseratten

Rund 3500 Einwohner zählt die fränkische Gemeinde Gundelsheim, vor den Toren Bambergs gelegen. Hier gehören Trekker noch zum Straßenbild, und zwar nicht nur die modernen Schlepper mit Rädern so hoch wie Häuser, sondern auch die historischen Lanz, Eicher oder Hanomag mit 20, 40 oder 60 PS. Tuktuktuk … tuckern sie aus alten Scheunen hervor, von denen es immer weniger gibt.

Auch in der Bachstraße stand so ein alter Zweiseithof, von dem irgendwann nur noch das Wohnhaus mit angrenzendem Stall übrig blieb. Solche Zweckgebäude erlangen selten Denkmalschutz, obschon sie das Ortsbild nachhaltig prägen. Nach langem Leerstand fanden hier 2015 kurzzeitig Flüchtlingsfamilien ein Dach über dem Kopf, bevor die Kommune beschloss, das Anwesen zu sanieren und es fortan als Bücherei zu nutzen.

2 Lageplan, M 1:2000

Bild: Schlicht Lamprecht Architekten

2 Lageplan, M 1:2000
3 Gestalterisches Spiel mit Hausgiebeln – an der Rückseite der Bücherei besonders gut ablesbar

Bild: Stefan Meyer, Nürnberg/Berlin

3 Gestalterisches Spiel mit Hausgiebeln – an der Rückseite der Bücherei besonders gut ablesbar
4 Das nicht unterkellerte Wohnhaus mit angrenzendem Stall wurde um einen Anbau in Holzrahmen-Leichtbauweise erweitert, Grundriss Erdgeschoss, M 1:300.

Bild: Schlicht Lamprecht Architekten

4 Das nicht unterkellerte Wohnhaus mit angrenzendem Stall wurde um einen Anbau in Holzrahmen-Leichtbauweise erweitert, Grundriss Erdgeschoss, M 1:300.

Regionaler Dreiklang: Haus, Stall, Scheune

Anstatt es irgendeinem Planungsbüro zu überlassen, wie sich das am besten umsetzen lässt, entschied der Gemeinderat, gemeinsam mit der Bayerischen Architektenkammer einen Realisierungswettbewerb durchzuführen, zu dem auch jüngere und regionale Büros geladen waren. Favorit war schließlich das Konzept von Schlicht Lamprecht Architekten aus Schweinfurt, deren städtebauliche Grundidee auf dem regional vertrauten Dreiklang eines fränkischen Bauernhausensembles – Haus, Stall, Scheune – basierte. Nahezu identisch zu dem damals vorgestellten Entwurf prägt heute das Wohnhaus scheinbar unverändert, aber aufgehübscht die Straßenflucht (Abb. 1), während der kleine Stall von einer doppelgiebeligen Scheune (Abb. 3) verschluckt worden zu sein scheint. Doch verrät genau dieser akkurat geformte Baukörper ohne jeglichen Schnickschnack mit seiner auf die Dachfläche übergehenden, offenen Holzschalung die Transformation des Anwesens in moderne Architektur mit neuer Nutzung. Dabei eine sensible Spannung erzeugend, ohne den Genius Loci bloßzustellen und die benachbarte Alltagsarchitektur hochmütig zu überstrahlen.

Alles Lesenswerte unter einem Dach

Der Blick hinter die Kulissen offenbart jedoch schnell, wie tiefgreifend sich die Transformation auf das Innere des Anwesens ausgewirkt hat: Weder Wohnhaus noch Stall und auch nicht Scheune erblickt hier das Auge, sondern das Verschmelzen der drei Typologien bäuerlicher Gehöfte zu einem neuen Ganzen mit ganz anderem Fokus: dem Buch! Und doch bleibt auch im Inneren ablesbar, woraus sich diese holzbekleideten Räume mit ihrer warmen, angenehmen Atmosphäre generiert haben. In dem komplett entkernten Wohnhaus finden sich keine Innenwände und Decken mehr, sondern ein Haus im Haus zoniert und zitiert das giebelständige Wohnhaus. Ein paar Mauerreste und ein Teil der Kappendecke erinnern an den Stall, und in der neu hinzugebauten Scheune in Holzrahmenbauweise wiederholt sich unter einem der Doppelgiebel das Haus-in-Haus-Prinzip – vielleicht eine Hommage an die verloren gegangene Grundstruktur des Zweiseithofes.

Die puristische Materialwahl für die Oberflächen – Holz fürs Haus im Haus, Holzwolleleichtbauplatten an der Dachuntersicht, weiß geschlämmte Ziegelwände, die Glasfassade und der sich durch alle Räume ziehende Terrazzoboden – spiegeln die Schlichtheit bäuerlichen Lebens und verleihen den Innenräumen ihre warme und angenehme Atmosphäre. Hier kann man sich in Büchern verlieren, die Zeit vergessen, sich informieren oder einfach in andere Welten und Geschichten hineinträumen. Verglaste Giebelfassade und Dachfenster fluten diese Literaturoase für kleine und große Leseratten mit Tageslicht, sanft abstrahlende Hänge- und Bandleuchten ermöglichen an trüben Tagen und in der Dämmerung blendfreies Lesen.

5 Der Detailschnitt zeigt die konstruktive Lösung der offenen Holzbekleidung, die nahtlos von der Fassade in das Dach übergeht, M 1:25.

Bild: Schlicht Lamprecht Architekten

5 Der Detailschnitt zeigt die konstruktive Lösung der offenen Holzbekleidung, die nahtlos von der Fassade in das Dach übergeht, M 1:25.
6 In der Schnittzeichnung ist das Haus-in-Haus-Konzept gut ablesbar, Schnitt M 1:300.

Bild: Schlicht Lamprecht Architekten

6 In der Schnittzeichnung ist das Haus-in-Haus-Konzept gut ablesbar, Schnitt M 1:300.
7 Die innenseitig gedämmten Außenwände des ehemaligen Wohnhauses sind mit einer Sockelheizung versehen, die als thermische Horizontalsperre das Aufsteigen von Feuchte unterbindet, M 1:20.

Bild: Schlicht Lamprecht Architekten

7 Die innenseitig gedämmten Außenwände des ehemaligen Wohnhauses sind mit einer Sockelheizung versehen, die als thermische Horizontalsperre das Aufsteigen von Feuchte unterbindet, M 1:20.
8 Zustand des Anwesens vor Baubeginn – nach langem Leerstand waren in dem Wohnhaus zeitweise Flüchtlingsfamilien untergebracht.

Bild: Stefan Meyer, Nürnberg/Berlin

8 Zustand des Anwesens vor Baubeginn – nach langem Leerstand waren in dem Wohnhaus zeitweise Flüchtlingsfamilien untergebracht.
9 Das Haus-in-Haus-Konzept der Bücherei basiert auf einer Stahlkonstruktion, die dann mit Holz bekleidet wurde.

Bild: Stefan Meyer, Nürnberg/Berlin

9 Das Haus-in-Haus-Konzept der Bücherei basiert auf einer Stahlkonstruktion, die dann mit Holz bekleidet wurde.

Gut gedämmt ist nicht automatisch effizient

So vorbildlich der Umgang mit dem Bestand und so sensibel und harmonisch sich der Neubau in die dörfliche Struktur integriert, so verwunderlich oder fragwürdig ist die Nachlässigkeit bei der Gebäudeeffizienz: Obschon der Anbau in Holzrahmenbauweise auf hohem Niveau gedämmt ist, und der Bestand unter bauphysikalischer Hinsicht mit 80 mm Innendämmung und gedämmter Bodenplatte ebenfalls wärmeschutztechnisch eine optimierte Hülle aufweist, bleiben Fragen offen.

Beheizt wird die Bücherei mit einer Gas-Brennwerttherme, die im ehemaligen Stall quasi im Bücherschrank verschwindet. Der energetische Nachweis erfolgte auf Basis der EnEV 2014 bzw. der novellierten Fassung von 2016, wonach der Anbau nach dem Bauteilverfahren zu bewerten ist. Natürlich erfüllen die Außenbauteile der Holzkonstruktion spielend sämtliche U-Wert-Vorgaben, jedoch geht das energetische Konzept an keiner Stelle auf regenerative Energieträger ein. Zugegeben, die mit offener Holzlattung gestaltete Fassade und/oder das Dach mit PV-Modulen zu kombinieren, hätte sich massiv auf die Architektur ausgewirkt. Es wäre sicher eine Herausforderung gewesen, dies gestalterisch in den Griff zu bekommen, aber für die kreativen Architekten nicht unlösbar.

Zumal es keine Nachlässigkeit der Planer war, zum Beispiel über eine Wärmepumpenlösung nachzudenken, denn es war die Gemeinde höchstselbst, die diese Investition nicht tätigen wollte. Wobei sogar eine simple Luft-Wasser-Wärmepumpe genügt hätte, da in der Bücherei kaum Warmwasserbedarf besteht. Immerhin ist eine Lüftungsanlage installiert, das war’s dann aber auch mit Gebäudetechnik. Auf meine Nachfragen bei den Architekten zu der Thematik war zu hören, dass „man“ so heute wohl nicht noch einmal entscheiden würde. Hm.

Es wäre noch interessant gewesen, die aktuellen Verbrauchs-werte zu erfahren, jedoch versandete diesbezüglich die Kontaktanfrage bei der Gemeinde. Das Projekt ist mehrfach publiziert worden, doch in keinem Artikel findet sich auch nur ein Absatz zum energetischen Konzept - es gibt halt keines.

Was ja kein Planungsfehler ist und auch rechtlich durch die EnEV in § 9 gedeckt war. Bis heute ist es möglich, einen Anbau, der weitaus größer ist als der Bestand, an den dieser angebaut wird, im Bauteilverfahren zu rechnen (siehe GEG, § 48). Wo endet hier Anbau, wo beginnt Neubau? Gleichzeitig diskutieren wir über die Solarpflicht und die Priorisierung der erneuerbaren Energien - das passt mit Blick auf die vielen Hintertürchen in der Gesetzgebung einfach nicht zusammen.

Trockene Füße dank Sockelheizung

10 Die Zonierung der Bücherei bestimmt maßgeblich das Haus-in-Haus-Konzept.

Bild: Stefan Meyer, Nürnberg/Berlin

10 Die Zonierung der Bücherei bestimmt maßgeblich das Haus-in-Haus-Konzept.

Indes ist den bauphysikalischen Aspekten bei dem Projekt sehr sorgfältig Rechnung getragen worden. So löste der beteiligte Bauphysiker, Dr. Wilfried Krah, zum Beispiel das Problem der aufsteigenden Feuchte bei den Außenwänden des nicht unterkellerten, entkernten Wohnhauses mit einer umlaufenden Sockelheizung, kombiniert mit innen- und außenseitigem Sanierputz nach WTA.

Um das ortstypische Erscheinungsbild des bestehenden Wohnhauses zu bewahren, wurde hinsichtlich des geforderten Wärmeschutzes eine Erleichterung bei der unteren BOB bewirkt. So kam man um eine außenseitige Dämmung herum, was Kosten sparte und die Charakteristik des Altbaus zweifellos gerettet hat. Versteht man den Umgang mit der Effizienz als Lowtech-Kompromiss und weint den vergebenen Chancen in puncto regenerativer Energie keine Träne nach, ist das Ergebnis dieser Planungsaufgabe unbestritten vorbildlich.

11 Alt trifft Neu – raues Mauerwerk erinnert an den ehemaligen Stall.

Bild: Stefan Meyer, Nürnberg/Berlin

11 Alt trifft Neu – raues Mauerwerk erinnert an den ehemaligen Stall.
12 Ein Teil der Kappendecke in dem ehemaligen Stall blieb erhalten.

Bild: Stefan Meyer, Nürnberg/Berlin

12 Ein Teil der Kappendecke in dem ehemaligen Stall blieb erhalten.


GEB Dossier

Grundlegende Informationen zum -Thema -finden Sie auch in unserem Dossier Nichtwohngebäude mit -Beiträgen und News aus dem GEB:

https://www.geb-info.de/themen/nichtwohngebaeude

U-Werte [W/(m2K)]:

  • Außenwand (Bestand mit 80 mm ­ Mineralschaum-Innendämmung): 0,405
  • Außenwand (Bestand mit doppelter Ziegelwand Haus in Haus): 0,215
  • Außenwand (Anbau in Holzrahmen-Leichtbauweise): 0,205
  • Bautafel

    Projekt: Umbau und Erweiterung eines ehemaligen Wohngebäudes mit Stall zu einer Bücherei in Gundelsheim, www.buecherei-gundelsheim.de

    Bauherrin: Gemeinde Gundelsheim, 96163 Gundelsheim, www.gemeinde-gundelsheim.de

    Fördergeber: Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat; Bayerisches Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr; Regierung von Oberfranken (Städtebauförderungsprogramm und Investitionspakt „Soziale Integration im Quartier“); Oberfrankenstiftung; Sankt Michaelsbund (finanzielle Förderung und fachliche Beratung bei der Zusammenstellung und Präsentation der Medien)

    Architekten: Schlicht Lamprecht Architekten mit Sandra Bieber, Anna Haun, Katrin Faber, 97424 Schweinfurt, www.schlichtlamprecht.de

    Energieberatung: BASIC, Ges. für Bauphysik, Akustik, Sonderingenieurwesen Consultance mbH, Dr. Wilfried Krah und Walter Kopp, 96163 Gundelsheim, www.basic-ing.de

    Tragwerksplanung: Tragraum Ingenieure, 90411 Nürnberg, www.tragraum.de

    HLS: Ecoplan Projekt GmbH, 96052 Bamberg, www.ecoplan-bbg.de

    Elektro: Planungsbüro Pabst, 96052 Bamberg

    Zimmerer: Zimmerei Bauer, 96224 Burgkunstadt, www.zimmerei-bauer.com

    Dach (Neubau): Lummel GmbH & Co. KG, 97753 Karlstadt/Main, www.lummel.de

    Schreinerarbeiten: Möbelwerkstätte B. Aumüller, 96138 Burgebrach, www.moebelwerkstaette-aumueller.de

    Außen-/Innenputz: Malerbetrieb Christoph Neukam, 96163 Gundelsheim

    Fotos: Stefan Meyer, Nürnberg/Berlin

    Bauzeit: 2018 bis 2020

    Flächen: 300 m2 Nutzfläche, 20 m2 Technik, nicht unterkellert

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